Lebens- Sterbe- und Trauerbegleitung

Ulrike Spitzer

Gedichte

Auf dieser Seite möchte ich Ihnen meine Lieblingsgedichte vorstellen


Stufen
Hermann Hesse

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!



Wer vom Ziel nicht weiß

Christian Morgenstern


Wer vom Ziel nicht weiß,     
kann den Weg nicht haben,     
wird im selben Kreis     
all sein Leben traben;     
kommt am Ende hin,     
wo er hergerückt,     
hat der Menge Sinn     
nur noch mehr zerstückt.    


Wer vom Ziel nichts kennt,     
kann's doch heut erfahren;     
wenn es ihn nur brennt     
nach dem Göttlich-Wahren;     
wenn in Eitelkeit     
er nicht ganz versunken     
und vom Wein der Zeit     
nicht bis oben trunken.     


Denn zu fragen ist     
nach den stillen Dingen,     
und zu wagen ist,     
will man Licht erringen:     
wer nicht suchen kann,     
wie nur je ein Freier, 

bleibt im Trugesbann

siebenfacher Schleier.




Neujahrs-Choral 

  Otto Julius Bierbaum (1865-1910)

Das ist des Weges Wende!
Nun hebt voll Dank die Hände:
Heil uns, wir stehn am Tor!
Dahinter ist es helle,
Es leuchtet auf der Schwelle
Das junge Licht hervor.

Was werden wir nun sehen,
Wenn sich die Flügel drehen?
Die immer gleiche Bahn.
Heil uns: das Ziel gewonnen!
Heil uns: aufs neu begonnen!
Der Gang hebt wieder an.

Es geht von Tor zu Toren,
Und kein Schritt ist verloren,
Geht nur die Liebe mit.
Wohl dem, den sie begleitet!
Glück ist, wohin er schreitet,
Und fröhlich jeder Schritt.

Und mag in Nacht und Tagen
Uns böses Schicksal schlagen,
Wir bleiben doch getrost:
Uns ist zu jeder Stunde,
Uns ist für jede Wunde
Ein Balsam zugelost.

Die Liebe lässt auf Erden
Nicht müd und irre werden
Und keinen einsam stehn.
Auf Jahr mit Lust und Schmerzen!
Wir wolln mit reinen Herzen
Durch deine Pforte gehn!    



Früh, eh der Tag 

 Hugo Ball (1886-1927)


Früh, eh der Tag seine Schwingen noch regt,
Alles noch schlummert und träumet und ruht,
Blümchen noch nickt in der Winde Hut,
Eh noch im Forste ein Vogel anschlägt,

Schreitet ein Engel
Durchs tauweiße Land
Streut uns den Segen
Mit schimmernder Hand.

Und es erwachet die Au und der Wald.
Blumen bunt reiben die Äuglein sich klar,
Staunen und flüstern in seliger Schar.
Aufstrahlt die Sonne, ein Amselruf schallt.

Aber der Engel
Zog längst schon landaus.
Flog wieder heim
In sein Vaterhaus.



Erscheinen meines Gottes Wege...

Herbert Sack (1902-1943)  


Erscheinen meines Gottes Wege
mir seltsam, rätselhaft und schwer
und geh'n die Wünsche, die ich hege,
still unter in der Sorge Meer,
will trüb und schwer der Tag verrinnen,
der mir nur Sorg und Leid gebracht,
dann darf ich mich auf eins besinnen:
Dass Gott nie einen Fehler macht.


Wenn unter ungelösten Fragen
mein Herz verzweiflungsvoll erbebt,
an Gottes Liebe will verzagen,
weil sich der Unverstand erhebt,
dann darf ich all mein müdes Sehnen
an Gottes Rechte legen sacht
und sprechen unter vielen Tränen:
Dass ER nie einen Fehler macht.


Drum still, mein Herz, und lass vergehen,
was irdisch und vergänglich heißt.
Im Lichte droben wirst du sehen,
dass gut die Wege, die ER weist.
Und solltest du dein Liebstes missen,
ja, geht’s durch finstre, kalte Nacht,
halt fest an deinem sel'gen Wissen:
Dass Gott nie einen Fehler macht.



    Am  Morgen

       Richard  Steinpach
          

        HERR, wieder liegt ein Tag vor mir!
        Ein Tag, den Du mir schenkst zu weit'rem Reifen,
        um in der Menschen Vielfalt und Gewirr
        das Dunkle, das so weit mich trennt von Dir,
        aus eig'ner Kraft allmählich abzustreifen.
        
        Wie schön ist Deine Welt, o HERR,
        wo jedes Wesen kündet, dass Du bist!
        Wie also wäre mir das Leben schwer,
        erkenn' ich doch, wie alles ringsumher
        nur Deines Wirkens stiller Bote ist.
        
        Und voll der Gnade ist der Tag,
        erlebe ich, wie Dein Gesetz mich leitet,
        da doch der Stunden wechselvoller Schlag
        mir nichts an Freud' und Leiden bringen mag,
        dem ich nicht selbst den Weg zu mir bereitet.
        
        Wohlan denn! Vieles ist zu tun!
        Ich will, dass es in Deinem Sinn gelinge!
        Und was auch kommt, sei mir zur Stufe nun,
        dass - bis es Abend wird, um auszuruh'n -
        ich reiner noch im Schöpfungswillen schwinge.